Der vergilische und der vatikanische Laokoon : Mit einem Anhang zu Michelangelos Laokoon-Zeichnung
Zuweilen ist ein Augenblick, der für denjenigen, der die bloße Zeit mißt, nur das Vorübergehen des Zeigers an einem Skalenstrich bedeutet, für den Erlebenden überlang, überreich und gesättigt von Jubel, Angst oder Schmerz; es sind dies Momente, da der Blick nach innen geht, die Stimme nur des Lautes, noch nicht des bewußten Wortes fähig ist. Diesen kurzen Augenblick, den Lessing den "fruchtbaren", Goethe den "höchsten Punkt" nannte, im Worte oder Bilde festzuhalten, war seit Jahrtausenden hoher Reiz und schwerste Aufgabe für den Künstler; doch nicht als bloße Lebenswirklichkeit und "genau so, wie es war", sondern verwandelt, gestaltet und in Schönheit aufgehoben, sogar wenn es um furchtbare Geschehnisse ging. Die schöne Darstellung ist nun aber auch dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht alles, was der Wirklichkeit nach hätte gezeigt werden müssen, auch wirklich zeigt: sie läßt Beiwerk fort und gibt nur das Wesentliche, kurzum: sie beschränkt sich. Der Wortkunst gelingt es zuweilen, verdichtend nur das auszusprechen, was für einen starken Eindruck nötig ist; die Bildkunst ordnet nur das Wenige zueinander, das (mag es auch nur einen vorübergehenden, aber dennoch reichen Augenblick darstellen) starkes Empfinden hervorruft und das Bedenken zu keinem Ende kommen läßt. Immer aber gaben die alten Künstler Schönes, auch im Erschreckenden, und dies gelang dem Wortmeister, wenn er gewaltige oder zarte Wörter von seltenem Reiz, Farb- und Tonwerte zu evozieren wußte, zu steigern, abzusenken und sinnträchtig Einzelnes ins Ganze einzubetten. Der Bildner war ebenfalls bemüht, auch im Furchtbaren das Schöne aufleuchten zu lassen, wenn er z.B. die Gliedmaßen schön, die Bewegung harmonisch gestaltete und nirgends ins bloß Gräßliche absank. Um solche Fragen wird es auf den folgenden Seiten gehen; manches Neue wird zu lernen sein, aber zunächst führt der Weg hinab in die Niederungen der Textkritik Vergils, um den Einstieg zu gewinnen.
Preview
Cite
Access Statistic

Rights
Use and reproduction:
All rights reserved