Moses Mendelssohn, die Aufklärung und das moderne Judentum
In den Jahren 2002 und 2003 hat Eva Engel, korrespondierendes Mitglied der BWG, in einer Plenarversammlung und einer Sitzung der Klasse für Geisteswissenschaften der BWG zwei Vorträge über „Moses Mendelssohn, Polyhistor und Wegbereiter (1738 - 1786)" bzw. „Moses Mendelssohn contra Kant – Ein Glücksfund" gehalten. Wie die Vortragstitel zeigen, ging es dabei zentral um die philosophischen und literaturwissenschaftlichen Aspekte des Mendelssohnschen Werkes, die Stellung Mendelssohns im deutschen Geistesleben im allgemeinen und seine Beziehungen zu Kant im besonderen. Diese Sicht auf das Mendelssohnsche Wirken und seine Bedeutung war insbesondere in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg die vorherrschende. Demgegenüber war die andere Seite der Bedeutung dieses Mannes, seine Stellung als Stammvater des deutschen Judentums und der jüdischen Moderne mit Wirkungen weit über Deutschland hinaus in diesem Zeitraum eher vernachlässigt worden. Erklärlich ist diese Akzentverteilung aus der Katastrophe, die das deutsche und europäische Judentum erfaßt hat: Die benahe totale physische und geistige Auslöschung der jüdischen Präsenz in Deutschland und weiten Teilen Europas, insbesondere Osteuropas, warf einen dunklen Schatten auch auf Moses Mendelssohn als den Ahnherrn der deutschen Judenheit und Vorkämpfer der Emanzipation, dessen Erbe als mit dem Holocaust weithin gescheitert betrachtet wurde. Innerhalb der vergangenen 15 - 20 Jahre hat sich diese Einstellung nun merklich gewandelt. Mit dem Wiederaufblühen jüdischen Lebens in Deutschland hat sich auch das Interesse an der Bedeutung Moses Mendelssohns für die Entwicklung des Judentums deutlich belebt. Bezeichnenderweise trägt denn auchdie kürzlich erschienene große Mendelssohn-Biographie von Dominique Bourel den Titel „Moses Mendelssohn – Begründer des modernen Judentums". Auch im übrigen ist die jüngste literarische Szene im deutschsprachigen Raum durch zahlreiche Zeugnisse der Wiederanknüpfung an frühere jüdische Lebenswelten bereichert worden. So haben mehrere Autoren in autobiographischen Werken ihre jüdischen Familienwurzeln reflektiert und verarbeitet. Besondere Aufmerksamkeit zog bereits die 1999 unter dem Titel „Die unsichtbare Mauer – Die dreihundertjährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie" veröffentlichte Familienbiographie von W. Michael Blumenthal, auf sich, die sich auch näher mit Person und Bedeutung Moses Mendelssohns beschäftigt. Auch die vorliegende Abhandlung des Verfassers steht in einem solchen herkunftsbezogenen Motivationszusammenhang. Diese jüngsten Entwicklungen haben ein geistig-literarisches Klima erzeugt, in dem die Hinwendung zu Moses Mendelssohn und seiner Bedeutung für das deutsche Judentum und das deutschjüdische Geistesleben von hohem Reiz ist. In diesem Bereich liegt wohl auch bei aller Wertschätzung für seinen Beitrag zur allgemeinen Aufklärungsgeschichte der Hauptrang des Mendelssohnschen Wirkens. Zu dessen Verständnis muß man sich zunächst die Situation der im Ausgang des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung mit wenigen Strichen vor Augen führen.
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